Helene und Ignaz Petschek
Unmittelbar nach der Besetzung Aussigs (tschechisch: Ústí nad Labem) sowie des dortigen Hauptsitzes des Petschek-Konzerns hatte die Berliner Finanzverwaltung im Oktober 1938 damit begonnen, den enteigneten Besitz der Familie Petschek zu ‚verwerten’. Ein Großteil des Unternehmens wurde schließlich nach zähen Verhandlungen im Dezember 1939 den „Reichswerken Hermann Göring“ zugeschlagen, ein kleinerer Teil dem Flick-Konzern.
Das Privatvermögen der Petscheks pfändete das zuständige Finanzamt Moabit-West, um eine angebliche und schließlich bis auf 300 Mio RM hochgeschraubte Steuerschuld zu begleichen. So wurden etwa Kunstgegenstände für das Führermuseum in Linz requiriert und die Wohnungseinrichtungen der Villen in Aussig und Berlin ebenso öffentlich versteigert wie Schmuck und andere Wertsachen der Familie.
Auch die umfangreiche Privatbibliothek von Ignaz und Helene Petschek sollte zugunsten des Reiches versteigert werden. Zu diesem Zweck wurden die Bücher zusammen mit den anderen Mobilien nach Berlin gebracht und dort zunächst geschätzt.
Der zuständige Gutachter, Max Niederlechner, bezifferte den Wert der gesamten Bibliothek Petschek auf etwa 40.000 RM. Da die Bibliothek eine Anzahl französischer und englischer Bücher enthielt, durfte sie – gemäß dem Erlass des Reichsführers SS vom 19.09.1939, der die Verbreitung von in Großbritannien oder Frankreich publiziertem Schriftgut verbot - zunächst nicht öffentlich versteigert werden.
Um die restlichen Petschek’schen Mobilien dennoch möglichst zügig ‚verwerten’ zu können, einigte man sich darauf, den englisch-französischen Teil der Bibliothek zunächst zurückzubehalten. Darüber hinaus erwarben die „Bücherei des Sudetengaus“ in Reichenberg (tschechisch: Liberec) und die Aussiger Stadtbibliothek einen Teil der Bücher als ‚sudetendeutsches Kulturgut’.
Die übrigen deutschsprachigen Bücher der Bibliothek Petschek sowie der Rest der Mobilien wurden schließlich am 26.03.1942 durch das Auktionshaus „Union“ direkt in der Villa Petschek in Berlin-Dahlem versteigert. Der Erlös für die Bücher betrug 37.735 RM.
Vermittlung durch die Reichstauschstelle
Im April des gleichen Jahres erhielt Adolf Jürgens, Leiter der Reichstauschstelle in Berlin, Kenntnis von dem englisch-französischen Teil der Petschek-Bibliothek und bekundete sofort Interesse an der Übernahme dieser Bücher, um sie für den Wiederaufbau der kriegsgeschädigten wissenschaftlichen Bibliotheken zu verwenden. Am 16. Oktober 1943 wurden die Bücher in der Ausweichstelle der Reichstauschstelle in Baruth in Empfang genommen und ‚verzettelt’, d.h. für jeden Titel wurde ein Bestell- bzw. Dublettenzettel mit Titelaufnahme, Bandangaben und einer laufenden RTS-Nummer angefertigt; zusätzlich wurde in jedem Band die jeweils vergebene RTS-Nummer eingetragen.
Die Liste dieser Zettel übersandte Jürgens am 1. Juni 1944 der SUB Hamburg zusammen mit der Anfrage, ob diese „im Ganzen“ erworbene Bibliothek ebenfalls „im Ganzen“ erwünscht sei. Auf demselben Schreiben vermerkten Hildegard Bonde und Direktor Reincke von der SUB, dass die „Erwerbung im Ganzen!“ (Reincke) „sehr erwünscht“ (Bonde) sei. Eine entsprechende Antwort von Hildegard Bonde an die RTS erging eine Woche später.
Da der SUB Hamburg als kriegsgeschädigter Bibliothek bereits im April 1944 ein sogenanntes „Wiederaufbaukonto“ bei der Reichstauschstelle bewilligt worden war, erfolgte für den Erwerb der Petschek-Bücher keine Zahlung, sondern die vereinbarten 10.100 RM wurden von der RTS direkt mit diesem Konto verrechnet.
Die Identifikation der Bücher als zur Bibliothek Petschek gehörig erfolgte über die in den Bänden eingetragene Nummer der Reichstauschstelle oder über das Exlibris von Ignaz und Helene Petschek.
Insgesamt konnten bei den Recherchen 421 Bände ermittelt werden, die von der Bibliothek Petschek noch im Bestand der SUB Hamburg vorhanden sind.
Völlig offen ist hingegen die Frage, was aus den deutschsprachigen Bänden der Bibliothek geworden ist, die in Berlin versteigert wurden und ob sie – ähnlich wie die Aussiger und die Hamburger Bestände – womöglich noch als zusammen-hängende Teilsammlung irgendwo vorhanden sind.
Nachdem im Frühjahr 2009 eine Anfrage an das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (BADV) ergeben hatte, dass für die enteignete Bibliothek bisher weder Entschädigungszahlungen geleistet worden waren noch ein aktueller Antrag der Familien auf eine solche Entschädigung bestand, beschloss die Direktion der SUB Hamburg im Sommer 2009, die Bücher der Familie Petschek zur Restitution anzubieten. Die Restitution erfolgte im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung in der SUB Hamburg im Juli 2013.