Der Lebensweg von Marie May Reiss
Marie Lazarus wurde am 22.1.1895 in Hamburg geboren und lebte mit ihren Eltern in der Abteistraße 24. Am 31.3.1920 heiratete sie Adolf Reiss. Nach einer kurzen Zeit in Lübeck siedelte das Ehepaar nach Hamburg in die Hagedornstraße 51 um. Ihre erste Tochter Annelise starb mit nur einem Jahr, zwei weitere Kinder, Tochter Ingeborg und Sohn Ernst Rudolf, wurden im August 1925 und August 1927 geboren. 1928 verstarb Adolf Reiss unerwartet. Marie und die beiden Kinder blieben in der Hagedornstraße in der Nähe ihres Elternhauses wohnen.
Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme verschlechterte sich die Situation der Hamburger Juden rapide. Wie alle Juden musste auch Marie May Reiss beim Oberfinanzpräsidenten eine sogenannte Sicherungserklärung abgeben. Darin wurden die Vermögensverhältnisse detailliert aufgeführt und anhand dieser ermittelt, welcher Geldbetrag der Familie künftig zur Verfügung stand. Aus den im Hamburger Staatsarchiv einzusehenden Akten lässt sich der immer beschwerlicher werdende Alltag der Familie ablesen. Für die alltäglichsten Dinge mussten extra Zuweisungen beantragt werde, so für das Bezahlen von Wasser- oder Arztrechnungen oder für den Kauf von Medikamenten. Selbst eine Bitte um Geld für den Kauf von Weihnachtsgeschenken ist dort zu finden.
1938 wurde der Sohn Ernst Rudolf in ein Quäkerinternat nach Ommen in Holland in die scheinbare Sicherheit gebracht, die Tochter Ingeborg blieb in Hamburg. Marie plante für die Familie die Auswanderung in die USA und beantragte Reisegelder, die sogar genehmigt wurden. Warum die Familie diese Chance nicht genutzt hat oder nicht nutzen konnte, ist nicht bekannt.
Stattdessen musste Marie mit ihrer Tochter Ingeborg 1941 die Wohnung in der Hagedornstraße verlassen und fand in ihrem Elternhaus Unterschlupf. Doch auch diese Sicherheit währte nur kurz. 1942 wurde das Haus in der Abteistraße zwangsverkauft.
Marie, ihre Tochter Ingeborg und Maries Mutter Elisabeth Lazarus wurden am 2.7.1942 in die Judenhäuser in der Kleinen Papagoyenstraße 11 bzw. 1 umgesiedelt. Nach wenigen Tagen wurden Marie und Ingeborg am 11.7.1942 nach Auschwitz deportiert. Zwei Tage vorher, am 9. Juli, stellte Marie einen Antrag beim Oberfinanzpräsidenten auf Mittel für Reisekosten wegen „angeordneter Abwanderung“. Selbst die Deportation mussten die Betroffenen selbst bezahlen.
In Auschwitz verliert sich Maries und Ingeborgs Spur.
Am 19.7.1942 wurde Maries Mutter Elisabeth Lazarus nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 3.6.1943 starb.
Auch Rudolf entkam der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nicht. Nach der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht führte ihn sein Weg über die Lager Vught und Westerbork nach Theresienstadt. Von dort wurde er am 28.10.1944 nach Ausschwitz weitertransportiert und dort am 26.1.1945, einen Tag vor der Befreiung des Lagers, erschossen.
Neben den vier Büchern im Bestand der Stabi erinnern Gedenkblätter in der Yad Vashem-Datenbank an die Familie - und seit 2009 auch vier Stolpersteine vor dem Haus Abteistraße 24.